Europawahlen – eine Einordnung 

Rund 370 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger waren zwischen dem 6. Juni und dem 9. Juni 2024 zur Wahl des Europäischen Parlaments aufgerufen. Rund die Hälfte (51,01%) von ihnen gab ihre Stimme ab, womit die Wahlbeteiligung knapp das Rekordergebnis der vorherigen Wahlen aus dem Jahr 2019 überschritt. Wenngleich die Beteiligung in den Ländern zum Teil beträchtlich auseinander lag (in Belgien lag sie bei 89,82%, in Kroatien bei 21,34%), so kann man doch konstatieren, dass eine hohe Zahl an Bürgerinnen und Bürgern an der Wahl teilgenommen hat. Wie sind die Wahlergebnisse einzuordnen?

 

Überblick

Die Wahlen zum Europäischen Parlament fanden vor besonderen Herausforderungen statt: Die Nachwirkungen der Corona-Pandemie sind noch immer zu spüren, die Ökonomien der EU-Staaten erholen sich zwar von der hohen Inflation der Jahre 2022/23, aber das nur langsam, Extremwetterereignisse belasten Sozial-, Umwelt-, und Wirtschaftssysteme gleichermaßen. Über allem ragt der Schatten des russischen Angriffskrieges, der mit der Invasion des ukrainischen Festlandes seit Februar 2022 in eine neue Phase eingetreten ist. Die Rückkehr eines Krieges ins europäische Bewusstsein, den es seit den Jugoslawien-Kriegen nicht mehr gegeben hatte, hat einstiege Selbstverständlichkeiten („Wandel durch Handel“, Vorbildfunktion der EU als „soft power“, Umstrukturierung der Verteidigungspolitik, um nur einige zu nennen) infrage gestellt und die Bedeutung der EU als Friedensprojekt bewusst gemacht, aber zugleich die mangelnde Kohärenz in Fragen einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik deutlich ans Licht treten lassen. 

Diesen Herausforderungen wird sich das neue Europäische Parlament und die im Herbst zu wählende Europäische Kommission unter leicht erschwerten Bedingungen stellen müssen. Die konservativ-zentrale EVP (186 Sitze) geht als klarer Siegerin aus den Wahlen hervor und wird mit der leicht geschrumpften Fraktion S&D (135 Sitze) sowie der stark reduzierten Renew-Fraktion (79 Sitze) zumindest auf dem Papier mit nach aktuellem Stand 400 Abgeordneten eine klare numerische Mehrheit stellen. Doch durch den fehlenden Fraktionszwang ist diese Mehrheit trügerisch, denn 10% bis 15% der Abgeordneten stimmen im Schnitt nicht mit ihrer Fraktion. Dagegen haben die Grünen/EFA (53 Sitze) nicht nur in Deutschland deutlich an Stimmen verloren. Als Gewinner dürfen sich auch die rechtsnationalen bis rechtsextremen Fraktionen wie die EKR (73 Sitze) und ID (58 Sitze) fühlen, die gemeinsam eine klaren Sitzzuwachs verzeichnen. Was das in der politischen Zusammenarbeit bedeuten wird, ist allerdings unklar, denn wie der Rauswurf der AfD im Mai 2024 aus der ID zeigt, bedeutet eine ähnliche politische Ausrichtung nicht automatisch eine Zusammenarbeit im Europäischen Parlament. Die Linke bleibt die kleinste Fraktion (36 Sitze). Die Fraktionsgrößen stehen noch unter Vorbehalt, da die Zahl der bisherigen Fraktionslosen sich auf 45 Sitze beläuft und die Verteilung der noch fraktionslosen Neumitglieder mit 55 Sitzen aussteht. Unsicher ist auch, ob und unter welchen Bedingungen sich die aktuelle Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Mehrheit für ihre Wiederwahl sichern kann. Ihre Avancen gegenüber Georgia Meloni, die mit ihrer rechtsautoritären Fratelli d’Italia in Italien regiert, haben nicht nur das sozialdemokratische Lager irritiert.

 

Stimmengewinn und Stimmenverlust der rechten Parteien

Fest steht, dass die Fraktionen der nationalkonservativen EKR sowie der rechtsnationalen ID durch das starke Abschneiden ihrer nationalen Mitgliedsparteien in den bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten Deutschland (AfD 15,9%), Frankreich (RN 31,4% und La France fière 5,5%) und Italien (FI 28,8% und M5S 9,9%) zusammen einen deutlichen Sitzgewinn verzeichnen. Dieser fällt jedoch nicht so hoch aus, wie es vor den Wahlen oftmals prognostiziert worden ist. Gerade in Polen hat die liberal-konservative KO einen sehr knappen Sieg gegen die PiS geholt und auch in Spanien dominieren die PP und die sozialistische PSOE. In Ungarn gewann zwar Fidesz deutlich die Wahlen vor der proeuropäischen TISZA, verlor aber 8,7% der Stimmen. Mit Ausnahme des Wahlsieges der FPÖ in Österreich gewannen in den restlichen EU-Mitgliedsstaaten beinahe ausschließlich proeuropäische konservative oder sozialdemokratische bzw. sozialistische Parteien. 

Mit Blick auf die Gesamtheit der EU-Mitgliedsstaaten lässt sich konstatieren, dass in der Mehrheit deutlich für eine proeuropäische Mitte gestimmt wurde. Der Sitzgewinn der EKR basiert auf dem deutlichen Wahlsieg der FdI (+14) in Italien, wobei die Lega der ID genauso viele Sitze verloren hat. Zudem geht die EKR durch das Ergebnis der LFf (+4) und kleineren Zugewinnen in Griechenland (+1), Spanien (+2) und Luxemburg (+1) gestärkt aus den Wahlen hervor. Die ID profitiert erheblich von dem deutlichen Wahlsieg des RN in Frankreich (+12) und in einem geringen Maße von der FPÖ (+3) und einem Zuwachs in den Niederlanden (+2) sowie in Portugal (+2). 

In sieben Mitgliedsstaaten verloren die Parteien im rechten Spektrum leicht an Zustimmung, so beispielsweise in Polen (-7 EKR). Dort beteiligten sich 40,65% der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger an der Wahl, was damit unter dem Durchschnittswert von 51,01% in der gesamten EU liegt. Das markiert die niedrigste Beteiligung seit den Europawahlen im Jahr 2014. Damals erreichte die Wahlbeteiligung gerade 21%. Die Parteien KO (Koalicja Obywatelska) sowie PiS (Prawo i Sprawiedliwość) erzielten mit 37,06% für die KO und 36,16% für PiS die meisten Stimmen. Auf die Kandidatinnen und Kandidaten bezogen lagen Borys Budka von der KO (334 842 Stimmen) und Bogdan Zdrojewski (310 544 Stimmen) auf Platz eins und zwei. Auch in Kroatien blieb die Stimmenverteilung eher konstant. Dort konnte die EVP zwei Sitze gewinnen und die EKR verlor einen Sitz. Seit dem Beitritt in die EU im Jahr 2013 war die Wahlbeteiligung in Kroatien bei der Europawahl durchgehend gering. Wenn man bedenkt, dass sich beim Referendum über den Beitritt 2012 nur 43% der Bevölkerung beteiligt hat, dementsprechend nur 28% FÜR den EU Beitritt gestimmt hat, überrascht die niedrige Wahlbeteiligung nicht. Das soll nicht bedeuten, dass Kroatien nicht proeuropäisch ist – im Gegenteil: als EU Außengrenze und EU Mitglied sieht sich Kroatien als absolut dazugehörig und betont dies oft in Bezug auf die Balkan Region, die andere Werte als die westeuropäischen spiegele. Zwar könnte die niedrige Wahlbeteiligung in einem Zusammenhang damit stehen, dass nur zwei Monate zuvor die Parlamentswahlen stattgefunden hatten, aber es zeichnet sich doch insgesamt eine Politikverdrossenheit, Misstrauen gegenüber Institutionen und Desinteresse an Politik ab. Eine auffällige Überraschung war eine neue Liste der jungen Sinnfluencerin Nina Skočak, die ausschließlich Gen Z Kandidat:innen zusammengebracht hat und dabei zwar unter der Sperrklausel lag, aber einen großen Erfolg verbuchen konnte, denn von 25 Listen kam sie auf den 6. Platz und überholte dabei viele bekannte Namen und etablierte Parteien. Zusammenfassend kann man für Kroatien festhalten, dass das geringe Interesse einem geringen Bildungsstand und kaum vorhandenen Kenntnissen über die Bedeutung der EU und Kroatiens Rolle darin geschuldet ist, dass es jedoch – wenn attraktiv angesprochen – aktiviert werden kann, was gerade das Beispiel der Gen Z Liste zeigt. In diesem Sinne appellieren wir für mehr politische Bildung in Kroatien und freuen uns mit dem Erasmus+ Projekt zum Thema Greenwashing und Youthwashing kleiner Teil dessen zu sein. 

In elf Ländern blieben die Sitze für EKR und ID unverändert niedrig. Hier lässt sich also eher eine Konstanz als ein Rechtsruck konstatieren. Das bildet sich etwa in Belgien ab. In Belgien fand am 09.06. nicht nur die Europawahl statt. Parallel kam es zur Wahl der nationalen Abgeordnetenkammer (vergleichbar mit dem Bundestag) und den vier regionalen Parlamenten (vergleichbar den Landtagen), aus welchem sich wiederum die zweite nationale Kammer, der Senat, rekrutiert. Die Bedeutung der europäischen Ebene war dabei, ähnlich wie in anderen EU-Staaten, in der öffentlichen Wahrnehmung den nationalen bzw. regionalen Belangen untergeordnet. Obwohl Brüssel als Hauptstadt Europas auch das Herz Belgiens ist, wird die EU in weiten Teilen der Gesellschaft als ähnlich distanziert empfunden, wie es auch in Deutschland, Portugal oder Lettland der Fall ist. Interessant ist die Zersplitterung des Landes, die sich in den regionalen Wahlen spiegelt: Während in Wallonien das liberale MR (Mouvement Réformateur, 29,8%) die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte, gilt dies im deutschsprachigen Ostbelgien für die christdemokratische ProDG (Pro Deutschsprachige Gemeinschaft, 29,1%) und in Brüssel für die Grünen (Groen, 22,8%). In Flandern konnten sich die Rechtspopulisten der N-VA (Nieuw-Vlaamse Alliantie, 23,9%) im Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Ultranationalisten des VB (Vlaams Belang, 22,7%) durchsetzen. In der Abgeordnetenkammer sind die Parteien nahezu anteilig gemäß der Größe der Landesteile vertreten. Im Europaparlament wird Belgien – nahezu analog zu Flandern – in großen Teilen von Rechtsaußenparteien vertreten, da sich hier VB (14,5%, vrstl. Teil von ID) knapp vor N-VA (14%, vrstl. Teil von EKR) durchsetzen konnte. MR, welches sich der Renew-Fraktion anschließen wird, folgt mit 12,7% und ist – entgegen dem europäischen Trend liberaler Parteien – mit einem Zuwachs von knapp 6% großer relativer Gewinner. Insgesamt brachte der Superwahlsonntag Belgien wenig Überraschendes, aber doch vieles zum Nachdenken, sind Rechtspopulisten und Ultranationalisten, die z.T. offen für eine Spaltung Belgiens respektive einen Rückzug (nicht Austritt) aus der EU eintreten, doch seit Jahren auf dem Vormarsch. Diese als klar anti-europäisch zu lesende Tendenz hat sich am Wochenende fortgesetzt. 

Portugal ist unverändert mit 21 Sitzen im Europäischen Parlament vertreten. Die Partida Socialista PS – die früher von Antonio Costa – angeführt wurde, hat zwar einen Sitz auf nun 8 verloren, ist aber mit 32,09% stärkste Kraft geblieben. Sie konnte damit gegenüber der Parlamentswahl im März 2024 um über 4% zulegen. Die Demokratische Allianz (AD), die regierende Mitte-rechts-Koalition unter Luis Montenegro, hat mit 31,12% einen Sitz weniger errungen. Die rechtspopulistische und rechtsextreme Partei Chega! hat gegenüber den Parlamentswahlen im März knapp die Hälfte seiner Stimmen verloren und erreichte mit seinen 9,8 % ebenso 2 Sitze. Neben der PS gilt die erst 2017 gegründete Liberale Initiative als Wahlgewinner, die mit 9,07% ihr Wahlergebnis vom März fast verdoppeln konnte und ebenfalls zwei Sitze erzielte. Das Bündnis aus Kommunisten, Grünen und der Intervenção Democratica haben ebenso wie der linke Block jeweils einen Sitz erhalten. Die Wahlbeteiligung lag mit 36,5 % fast sechs Prozentpunkte höher als vor fünf Jahren.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass, wenn man nur nur auf die Fraktionen des Europäischen Parlaments blickt, von einer moderaten Stärkung der rechten und rechtsautoritären Fraktionen gesprochen werden kann. Allerdings gibt es gerade in den östlichen und nördlichen Mitgliedsstaaten einen Trend zur Stabilisierung bzw. sogar zu einer Schwächung rechter und rechtsextremer Parteien. Jedoch gilt es zu bedenken, dass weitere Parteien dieses politischen Spektrums stark im Europäischen Parlament vertreten sein werden: Die AfD stellt 15 Abgeordnete (+6), die ungarische Fidesz weiterhin 10 (-2) und der italienische M5S 8 (+3). Diese noch fraktionslosen Parteien werden die europaskeptischen bis europa-feindlichen Töne im Parlament verstärken. 

 

Zeichen gegen die EU?

Die proeuropäischen Kräfte im Europäischen Parlament gehen insgesamt geschwächt aus den Wahlen hervor, was nicht nur am Gewinn des rechten Spektrums liegt, sondern auch an europaskeptischen Parteien links der Mitte wie BSW (6 Sitze) in Deutschland oder die französische LFI von Jean-Luc Mélenchon, die auf 9 Sitze (+4) kommt. Es ist schwer zu beurteilen, inwiefern diese Ergebnisse eine dezidierte Ablehnung der EU ausdrücken, da vor allem nationale Wahlkämpfe mit nationalen Themen geführt wurden. Europäische Themen wie Migrationspolitik, der Krieg in der Ukraine oder die EU als oberste gesetzgebende Instanz wurden zwar leidenschaftlich diskutiert, zugleich aber im Wesentlichen in nationalspezifische Kontexte eingebettet. Gerade in Frankreich verhandelten beinahe alle Parteien und Bündnisse europapolitische Themen unter der Frage der nationalen Souveränität. In Deutschland war der Krieg gegen die Ukraine ein ebenso brisantes Thema wie der oft beschworene Bürokratieabbau. Generell zeigen auch die Nachwahlanalysen, dass der Fokus der nationalen politischen Entscheidungsträger und auch der medialen Berichterstattung auf den Folgen der Wahlen für das jeweilige Mitgliedsland lag. Auf der einen Seite gelang es rechten (und auch äußerst linken) Parteien in Ländern wie Frankreich, Deutschland, Italien, Ungarn und Polen, ihre Wählerschaften unter anderem dadurch zu mobilisieren, dass sie die EU als Sündenbock in ein Versprechen des nationalen (Wieder-)Aufstiegs eingebunden haben. Auf der anderen Seite verknüpften liberale, grüne, sozialdemokratische und konservative Parteien Hauptwerte der EU wie Freiheit, Wohlstand und Frieden mit ihren eigenen nationsspezifischen Agenden. Im Osten der EU wie in Bulgarien und Rumänien darf die Sicht auf die EU als Wohlstands- und Sicherheitsprojekt nicht als Wahlfaktor unterschätzt werden.

 

Was bedeuten die Wahlen für die Arbeit für die EU?

In den bevölkerungsreichen Ländern Frankreich und Italien sind Stimmen im RN und in der FdI, die aus der EU austreten wollen, leiser geworden oder sie werden zumindest nicht so laut in der Öffentlichkeit artikuliert. Beim RN ist dies Bestandteil der „Normalisierungsstrategie“, die mit der anvisierten Zusammenarbeit mit Les Républicains bei den anstehenden Neuwahlen in Frankreich als erfolgreich beschrieben werden muss. RN und FdI sind Beispiele, die sich die EU eher für ihre nationalistischen Ziele, etwa im Bereich der Migrationspolitik, zunutze machen wollen. Diese Normalisierung von rechtsextremen und rechtsautoritären Parteien und nationalen Zusammenarbeiten mit Konservativen könnte als langfristige Entwicklung auch im Europäischen Parlament die bisherigen Grenzen der politischen Zusammenarbeit verschwimmen lassen. Mit ihrem gemäßigten Auftreten hat sich Giorgia Meloni beispielsweise als politische Partnerin auf europäischer Ebene ins Spiel gebracht, worauf die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eingegangen ist.

Diese ambigue Mischung aus gemäßigtem Auftreten bei anhaltender Ablehnung der EU in ihrer heutigen Form wird es zusätzlich erschweren, Koalitionen zu finden und zu einer produktiven Arbeitsweise im Europäischen Parlament zu kommen. Die gestärkten rechten Fraktionen EKR und ID könnten Abgeordnete aus dem konservativen Spektrum vereinzelt überzeugen und es ist noch recht unklar, wie sich die neuen Abgeordneten im Parlament positionieren werden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber auch, dass eine Zusammenarbeit unter den rechten Fraktionen ebenfalls nicht selbstverständlich sein wird. Dies haben nicht zuletzt die Ausschlüsse der Fidesz-Partei und der AfD aus der ID gezeigt. Dennoch könnte es durch die gegebenenfalls knappe Mehrheit der EVP, S&D und Renew nötig sein, auch außerhalb der eigenen Fraktionen Zustimmungen zu Gesetzesvorhaben zu sammeln. Die Mitte ist stark, aber sie ist auch zugunsten der Ränder etwas geschrumpft. Doch die Wahlergebnisse in Polen und auch die Stimmenverluste für Fidesz zeigen, dass dieser Trend nicht unumkehrbar ist. Einen großen Einfluss auf die Zusammenarbeit in der Europäischen Union könnten darüber hinaus die nationalen Wahlergebnisse haben. Sollte der europafeindliche RN in der französischen Nationalversammlung eine deutliche Mehrheit erhalten und sogar die Regierung übernehmen, wird sich dies auf die Abstimmungen und Verhandlungen im Rat der EU auswirken. 

 

Welche Perspektiven bieten sich nach den Wahlen?

Wenngleich das Thema Sicherheit hauptsächlich in nationalen Kontexten verhandelt wurde, so zeigt dessen Bedeutung im Wahlkampf doch, dass die Frage nach einer europäischen Souveränität durch den russischen Angriffskrieg weiter an Bedeutung gewinnen wird. Auf die gewandelte geopolitische Lage wird die EU voraussichtlich reagieren, indem sie einen Kommissar für den Bereich Verteidigung ernennen wird. Insbesondere bei den östlichen EU-Mitgliedsstaaten ist das Bedrohungsgefühl sehr hoch. In diesem Zusammenhang sollte den Balkanstaaten, ebenso wie der Ukraine und Moldawien, eine beschleunigte Beitrittsperspektive aufgezeigt und gleichzeitig von der Europäischen Kommission an einer gleichberechtigten Kohäsionspolitik gearbeitet werden, die Neumitglieder strukturell in die Gemeinschaft integriert. Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, dass es nicht allein um die von Emanuel Macron geforderte außen- und sicherheitspolitische Souveränität Europas gehen kann. Vielmehr muss Sicherheit digital, ökologisch und ökonomisch gedacht werden. Dies schließt die zielgerichtete Diversifizierung von Lieferketten und ein breites Netz an Kooperationspartnern im Bereich der erneuerbaren Energien mit ein. Hierfür wird es unerlässlich sein, den europäischen Partnern insbesondere in Afrika und Südamerika auf Augenhöhe zu begegnen. 

Die anstehenden Verhandlungen über die Zusammensetzung der Fraktionen und die Praxis im parlamentarischen Alltag werden zeigen, inwiefern die aktuellen institutionellen Gegebenheiten den veränderten Bedingungen eines Parlaments mit gestärkten Rändern und einer trügerischen Mitte noch gerecht werden können. Es wird auch Aufgabe der Kommission sein, Mehrheiten von Gesetzesvorhaben zu überzeugen, die weiterhin die großen Ziele der EU wie den Green Deal voranbringen wollen. 

Die Wahlkämpfe haben gezeigt, dass Kritik an der EU als mobilisierendes Moment in nationalen Kontexten wirken kann. An dieser Stelle lässt sich ein Auftrag an die Träger europapolitischer Bildung formulieren, Europakompetenzen in der gesamten gesellschaftlichen Breite zu stärken. Ein niedrigschwelliges Informationsangebot, dass die Bedeutung der EU für den Alltag ins Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger bringt, wäre eine vielversprechende Möglichkeit. Denn diese Kompetenzen widerlegen vielfach artikulierte Vorwürfe, wie etwa, dass die EU ein Bürokratiemonster sei, sie alle Regeln vorgäbe oder sie die Mitgliedsstaaten entmündige. Zugleich sollten die Institutionen und Akteure der EU gerechtfertigte Kritik ernst nehmen. Gerade die Veröffentlichung von Protokollen und Entscheidungsfindungsprozessen im Rat, der Kommissionen oder den Trilogen wäre eine Möglichkeit, um durch Transparenz das Vertrauen in die demokratischen Mechanismen der EU zu stärken. Dieses könnte ebenfalls erhöht werden, wenn dem Europäischen Parlament das Initiativrecht zugestanden werden würde. Zudem sollten Wege gefunden werden, wie Entscheidungen schneller umgesetzt werden können. Der AI Act hat gezeigt, dass die EU zum schnellen Handeln in der Lage ist. Hierbei muss allerdings die Frage gestellt werden, ob das Einstimmigkeitsprinzip im Rat bei wichtigen Angelegenheiten nicht häufig raschen Entscheidungen im Wege steht. 

Die EU ist sowohl als Idee als auch als politisches Projekt einmalig. Sie steht für Wohlstand, Frieden, Freiheit und mittlerweile dank des Green Deals für den Kampf gegen den Klimawandel. Mit dem Digital Markets Act, dem Digital Service Act und dem AI Act beschreitet sie allmählich den Pfad in einen sicheren digitalen Raum und stellt sich den Herausforderungen der digitalen Transformation. Diesen Weg ist die EU in den letzten 30 Jahren unter historisch günstigen Bedingungen gegangen. Krieg, Corona, Inflation, eine veränderte geopolitische Lage mit einem wankelmütigen transatlantischen Partner und einem immer einflussreicheren China, der menschengemachte Klimawandel und der Umstieg auf erneuerbare Energien sind enorme Herausforderungen, denen sich die einzelnen Nationalstaaten nicht alleine stellen können. Die EU hat bewiesen, dass sie den supranationalen Rahmen bieten kann, um auf einer auch global relevanten Ebene positive Veränderungen anzustoßen. In den kommenden Jahren wird sie zeigen, dass sie dazu auch unter leicht erschwerten Bedingungen weiter fähig ist.